Grzegorz Kwiatkowski, der 1984 geborene polnische Lyriker und Musiker der psychedelischen Post-Punk-Band „Trupa Trupa“, veröffentlicht im August 2024 in der Kölner parasitenpresse seinen zweiten Gedichtband „ohne Orchester“. Nur vierzehn Monate liegen zwischen dieser und seiner ersten Veröffentlichung im Kölner Verlag, seinem deutschen Debüt „brennend“ (Juni 2023).
Beide Bücher, jeweils übersetzt von Peter Constantine, widmen sich der schonungslosen Schilderung der Grausamkeiten der Shoah im von den Nazis besetzten Polen sowie in Litauen. Es sind zwei Kapitel derselben Geschichte, und doch liest sich „ohne Orchester“ heute ganz anders als zuvor „brennend“.
In den vierzehn Monaten, die zwischen den beiden Gedichtbänden liegen, ließ der siebte Oktober das Undenkbare zurückkehren: das bestialische Hinmorden von Juden. Der ehemals feierliche Schwur „Nie wieder!“ verlor seine moralische Kraft, seine Unumstößlichkeit, in gewisser Hinsicht auch seine Unschuld.
Kwiatkowski, selbst Enkel eines Überlebenden des KZ Stutthof, erfuhr noch im Kindesalter aus erster Hand von den Gräueln der Judenvernichtung in den national-sozia-listischen Konzentrationslagern, von Pogromen, Massen-morden und Massakern an der jüdischen Bevölkerung Polens und Litauens. In seinen Gedichten zeichnet Kwiat-kowski die Shoah als minutiöse Abfolge tausender und abertausender einzelner Morde. Es sind unmenschliche Tötungen, Verstümmelungen, Vergewaltigungen, Leichen-schändungen, eigenhändig begangen von Wehrmachts-angehörigen, SS-Leuten und KZ-Personal, aber auch von Nachbarn, Arbeitskollegen, dem Milchmann, dem Brief-träger und dem Feuerwehrmann von nebenan. Jeder macht mit, niemand bleibt ohne Schuld. Die kurzen Gedichte sind fragmentiertes Grauen, Horror in Reinform, dargereicht in schockartigen Stößen. Es sind Bild- und Wortfetzen des Unbeschreiblichen und Unsagbaren.
Kwiatkowski stützt sich auf Archivdokumente, Verhörprotokolle und Zeugenaussagen. Er verwendet Zitate von Opfern, von Tätern, von Beteiligten, von Zuschauern, von Sterbenden, von Entkommenen und von Nachgeborenen. Nazi-Größen wie Eichmann, Göring, von Papen kommen ebenso zu Wort wie unbekannte, aber nicht namenlose Mörder und Ermordete. Kwiatkowski verdichtet alle Aussagen und Originaltöne zu einem vielstimmigen dämonischen Gesang. Dieser wirkt wie eine Vertonung der verstörenden Gemälde von Hieronymus Bosch, wie ein diabolischer Chor, eine Sinfonie aus der Hölle.
Im Verlauf des Buches erfahren wir vom Schicksal getöteter und verstümmelter Kinder ebenso wie von Anatoly Lipińksi, einem elfjährigen Jungen, der während eines Massakers im litauischen Ponary für die Mörder Akkordeon spielt und damit sich selbst und seiner Familie das Überleben sichert. Im letzten Gedicht spricht Leokadia Blajszczak. Es sei eine Lüge, dass der Historiker Jan Tomasz Gross das Massaker im polnischen Jedwabne als von Klarinettenklängen begleitet beschreibt. Von Klarinetten wüsste sie nichts, denn die am Blutbad beteiligte freiwillige Feuerwehr des Ortes war eine „ohne Orchester“.
Am Ende des Tages kehren die freiwilligen wie pflichtbewussten Täter zurück an den heimischen Herd. Sie fühlen sich schuldig, aber nicht für ihre Taten verantwortlich. Sie warten geduldig auf Strafe, die sie niemals ereilt. Ein bösartiger Mechanismus, der Wieder-holung ermöglicht. Lasen wir Kwiatkowskis ersten Gedichtband „brennend“ im Juni 2023 noch als Mahnung, lesen wir den Nachfolgeband „ohne Orchester“ im August 2024 als Zeugnis des erneuten Versagens, als wiederholtes Eingeständnis von Schande.