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ich, zeitversetzt

„Zum einen erinnert man, individuell und kollektiv, um Identität, auch wenn sie brüchig bleibt, auszubilden und sich vor Wiederholung zu feien, zum anderen hat Literatur grundsätzlich mit Erinnern zu tun, ist Literatur eine spezifisch strukturierte Form (vergegenwärtigenden) Erinnerns. Die Grazer Autorin Friederike Schwab und der polnische Autor Grzegorz Kwiatkowski schreiben Gedichte, die Erinnern als literarisches Programm und als ästhetischen Akt immer neu fokussieren.

Weil für Friederike Schwab Reflexivität und Sinnlichkeit keine Widersprüche, sondern einander aufladende, sich wechselseitig inspirierende Modi sind, kann das lyrische Ich in ihren Gedichten gleichermaßen scharfsinnig wie leichthändig nachdenken und philosophieren. paradiese im kopf / bebildern metaphorisch woran ich mich erinnere / inszenieren bacchhantische grüße. Kann die Tatsache, dass Erinnern nicht nur Abrufen, sondern auch Formen und Überformen bedeutet, treffender beschrieben werden? Wohl kaum. Das ist denn auch eine der Stärken von Friederike Schwabs Lyrik: Dass sie Nachdenken oder Punkte, an die das Denken stößt, sinnlich-reflexiv zu verdichten und zu durchlüften im Stande ist.

Nicht nur gespeicherte Gedächtnisinhalte, auch aktuelle Erfahrungen beeinflussen das Erinnern des lyrischen Ich, schön vertane Tage etwa haben ein(en) sack wollnebel /bitterlinge zerrieselndes tot / holz rotschöne käfer der ameisen / flügel im Schlepptau; oft auch kommt die poetische Beschreibung der Tatsache, dass Erinnerungen immer inszeniert und neu inszeniert werden, selbstironisch lakonisch daher, eine galante verschiebe / technik erlaubt es nicht / auf schmerz zu beißen / und zähne zu verlieren. Erinnerung – Friederike Schwab ist viel zu klug, um das zu übersehen – formt auch die Interpretation von Gegenwart und mithin die Wahrnehmung. Erinnern wird zum Konfigurations-Spiel, zum Reenactment, das eindringliche Bilder und Metaphern zeitigt.

Friederike Schwab ist nicht nur Autorin, sondern auch bildendende Künstlerin, vielleicht radikalisiert sie deshalb den Akt des Erinnerns (oder die Vorstellung davon), dehierarchisiert und entchronologisiert das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit was das (poetische) Zeug hält, um die Vergangenheit auftreten zu lassen, in direktem Wortsinn. Ein selbstständig gewordener Teil ihrer Vergangenheit hätte Existenz im Jetzt und spräche als lyrisches Subjekt mit ihr, sagt sie, nähme im Jetzt und als Jetzt Form an. so laut inmitten der unruhe / dem ausscheren der wünsche / höre ich den soldatenschritt / den zuschliff der erinnerung / diese zeitkammer / sehe den staub fliegen / höre den himmel brechen.

Selten finden sich in der neueren Lyrik Friederike Schwabs Gedichte, die Vergangenes, etwa die eigene Kindheit, schlicht beschreiben; zu sehr, möchte man sagen, hat die Autorin an poetischer Reflexivität Lunte gerochen, zu eindrücklich entzündet sich die poetische Kraft ihrer Texte im Zusammenspiel von Schauen und Denken.

Der junge polnische Autor Grzregorz Kwiatkowski verzichtet auf komplexe Metaphorik, lässt Sprachspiele außen vor und entwickelt seine Lyrik in einem fein austarierten Spannungsraum zwischen Pathos und Ironie. Polnische Lyriker-Kollegen und Kritiker haben sich wiederholt mit Kwiatkowskis provokanten Verfahren auseinandergesetzt und auf die „komplexe Einfachheit“ seiner Texte verwiesen, die sich aus dem Wechsel der Sprechhaltungen, aus der Zurückhaltung in der Wahl poetischer Mittel und der paradoxen Grundstruktur seiner Texte ergeben. Erinnern, die zentrale Perspektive, wird in mal mehr, mal weniger ironisch aufgeladenem, oft auch ungebrochenem Pathos zum empathischen Akt, zum Mitleiden, zur „Compassion“. Erinnern ist (muss) in dieser Ästhetik konkret (sein), Kwiatkowski nennt oft die Namen derer, um die es im Text geht, bereits im Titel samt Geburts- bzw. Geburts- und Sterbedatum, Dora Drogoj, 1923-1941, Buza Wajner, 1937-1943, Sylvie Umubyeyi, geb. 1974. Unglaublich, wie behutsam und bewusst er seine „Ästhetik der Compassion“ im Verzicht auf Elaboriertheit und in der „Entselbstung“ des lyrischen Ich entwickelt. BUZA WAJNER. 1937-1941 // ich war sechs als ich ermordet wurde / und meine schwester Sulamit vier. Nur einem Autor, der sich radikal zurücknimmt, kann Identifikation ohne Vereinnahmung gelingen. Und um ein Ausloten von Identifikationsmöglichkeiten zwischen Irritation und Irritationsverzicht scheint es in der Lyrik von Kwiatkowski zu gehen. Und nicht nur Opfer-Perspektiven faltet dieses Verfahren aus, sondern Perspektiven von Durchschnittsmenschen oder allgemeiner: Haltungen – „ich sah einige leichen im schlamm am fluss / als ich fische fangen ging / es war frühjahr und taute / ich habe das vorher nie in verbindung gebracht / aber einen toten fisch würde ich nicht aus dem wasser ziehen / und genauso zog ich auch diese leute nicht heraus.

Für Grzegorz Kwiatkowski und für Friederike Schwab ist Erinnern zentral, die Verfahren und der Fokus aber liegen auseinander. Und dennoch gelangen beide im ästhetisch strukturierten Erinnern und im ästhetisch strukturierten Nachdenken des Erinnerns an denselben Punkt: keine Vereinfachung bitte, sagen ihre Gedichte, kein Moralisieren, keine Teilung in Gut und Böse, Manichäisierung ist angesichts der Praxis und der Reflexion des Erinnerns absurd, widerspricht auch zeitgenössischen ästhetischen Praktiken – sie sagen es explizit, sie vermitteln es eindrücklich in Metaphern und Bildern.”

Birgit Pölzl, www.kultum.at

Friederike Schwab,
geb. 1941 in Graz, lebt und arbeitet in Graz. Studium der Malerei. Arbeitet im Bereich der Bildenden Kunst: Malerei, Druckgrafik, Objektkunst, zahlreiche Ausstellungen und schreibt: Hörspiele, Erzählungen, Romane und Lyrik.
Neuere Bücher: Die Insel im Maismeer. Roman, 2010 Verlag Leykam; schwebeblätter. Gedichte, 2011 Edition Art Science; …gleich welches/ gleich wie. Gedichte, 2013 Edition Keiper; Der Schlaf im Bauch des Chinesen. Erzählungen, 2013 Edition Keiper.

Grzegorz Kwiatkowski,
geboren 1984. Dichter und Musiker. Von ihm erschienen bisher drei Gedichtbande: Przeprawa (Überquerung), 2008; Eine Kleine Todesmusik, 2009 und Osłabić (Schwachen), 2010. Er ist Mitglied der Band „Trupa Trupa“ und wurde als Lyriker u. a. mit den Preisen Splendor Gedanensis (2011), Nagroda Artystyczna Gdańskiego Towarzystwa Przyjacioł Sztuki (2011), Nagroda Miasta Gdańska dla Młodych Tworcow (2009) ausgezeichnet und erhielt mehrere Stipendien. Veröffentlichungen in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften.

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