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Recenzja “brennend” – Tageblatt

Mit seinem Lyrikband „brennend“ setzt Grzegorz Kwiatkowski ein Zeichen gegen das Schweigen angesichts der Schrecken des Zweiten Weltkriegs in dem damals besetzten Polen.

Gedichte zu schreiben, ohne sich vertrauensvoll der eigenen Phantasie zuzuwenden, ist unmöglich. Jedoch werden manche Texte geschrieben, ohne dass die Phantasie des Autors oder der Autorin zuvor von einem äußeren Erlebnis in Gang gesetzt worden wäre. Bei anderen wiederum gibt es diese Vorgeschichte; sie bildet gleichsam das Fundament, das alle Textschichten trägt und mit zarter Strahlkraft durch sie hindurchschimmert. Grzegorz Kwiatkowskis Lyrikband „brennend“ (Parasitenpresse) lässt sich in letztere Kategorie einordnen. Denn ihm geht eine unglaubliche wie herzzerreißende Geschichte voraus: Im Sommer 2015 spazierten Kwiatkowski und sein Freund Rafał Wojczal durch den Wald vor dem Konzentrationslager Stutthof, in dem Kwiatkowskis Großvater in der Zeit des Zweiten Weltkriegs gefangen gehalten worden war. Plötzlich stießen die beiden Männer auf mehrere tausend Schuhe. Die Schuhe waren abgenutzt, schmutzig und verschlissen, es gab sie in allen Größen, Herren- und Damenschuhe lagen dort aufeinandergestapelt, Schuhe für Kinder. Tiefer im Wald fanden die beiden noch viele Tausende mehr.

In der den Gedichten vorangestellten Vorbemerkung erfährt man, dass die Fußbekleidungen in Stutthof zu verschiedenen Lederprodukten weiterverarbeitet werden sollten; dass sie von Deportierten aus ganz Europa stammten. Die Schuhe wurden schließlich in den 1960er Jahren entsorgt „von einer polnischen Regierung, die es für angebracht hielt, nicht auf die schmerzhaften und umstrittenen Jahre der Nazi-Besatzung zu verweisen“.

Eine Verknappung der Sprache

Durch das leidvolle Schweigen, das sich in Polen wie eine dicke Staubschicht über die Vergangenheit legte, versucht Kwiatkowski nun mit seinem Lyrikband eine Schneise zu schlagen. Dabei fungieren seine Texte als eine Art Zeitkapsel, die die individuellen Berichte von Opfern, Tätern und Mitwissern enthält. Mit fast gespenstischer Glaubhaftigkeit versetzt sich Kwiatkowski in die Lage derer, die auf der einen oder der anderen Seite standen; die um ihr eigenes Leben bangen mussten oder das Leben anderer Menschen nahmen. Dabei lässt er zum Beispiel Holocaust-Überlebende wie Richard Glazar, dem 1943 die Flucht aus dem Vernichtungslager Treblinka gelang, persönlich zu Wort kommen: „der Ort erinnerte mich an einen Bauernhof / wunderbar dachte ich / ich kriege jetzt eine Arbeit / über die ich so manches weiß“. Die aufwühlende Ahnungslosigkeit des Sprechers gibt der Schrecklichkeit der in den Lagern begangenen Verbrechen klare Konturen; knappe lyrische Einschübe wie derjenige des Försters Danz untermauern ihre absolute Perversität: „während des Krieges stapelten wir die Körper wie Holz / aber nach dem Krieg stapelten wir das Holz im Wald / wie frisch abgehakte Körper“.

Kwiatkowskis Gedichtband wirkt wie ein Traumfänger, in dem sich die blutigen Albträume eines halben Jahrzehnts verfangen haben. Als Gipfel des Grauens könnte man die kurze Erzählung der sechsjährigen Buzia Wajner bezeichnen, die über ihren eigenen Tod reflektiert: „ich war sechs als ich ermordet wurde / meine Schwester Szulamit war vier“. Der Name Szulamit lässt aufhorchen: Wird hier auf Celans „Todesfuge“ rekurriert? Der Schluss liegt nahe, da die Figuren auch in diesem Gedicht Milch – wenn auch keine schwarze – trinken. Man muss unwillkürlich an das „aschene Haar“ von Celans Sulamith denken und wäre damit beim Motiv des Feuers angelangt, das schon der Titel des Gedichtbands aufgreift. Spannend dabei ist, dass das Wort „brennend“ auf unterschiedliche Weise verstanden werden kann: Entweder nämlich liest man es als Partizip Präsens oder als Adjektiv. Im ersteren Fall verleiht die grammatische Form dem Verb eine prozesshafte, die Gegenwart umspannende Dauer, es wird somit direkt in die Aktualität gehoben. Im zweiteren Fall verweist der Begriff auf die äußerste Dringlichkeit des behandelten Sujets; auch hier wird die Nähe zur Jetztzeit deutlich. In seinen Gedichten pflegt Kwiatkowski einen diese Nähe noch einmal unterstreichenden poetischen Minimalismus: Mit chirurgischer Präzision und erschütternder Nüchternheit entwirft er eine mehrstimmige Komposition, die einen unmittelbar ins Herz trifft. Was somit unleugbar wird: Die Wege, die all die gefundenen Schuhe nicht mehr gehen konnten, führen bis in die Gegenwart.

Chris Lauer, www.tageblatt.lu

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